zur Erinnerung

Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?

"Ich bin froh, in einer Demokratie zu leben"

HERBST 89: Der frühere Schauspieldirektor Hartwig Albiro über die ersten Proteste in Karl-Marx-Stadt und Fehler bei der deutschen Einheit

Erschienen am 12.10.2019

Wie denken heute Zeitzeugen und Protagonisten der Wendezeit in Chemnitz und Umgebung über damals und über die Entwicklung seither? Michael Müller sprach mit dem früheren Schauspieldirektor Hartwig Albiro.

Hartwig Albiro am Schauspielhaus im Park der Opfer des Faschismus. Nachdem am Vormittag des 7. Oktober 1989 im Stadtzentrum nach einem Schweigemarsch Volkspolizei gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen war, verlas er dort am Abend eine Resolution für demokratische Reformen. Hartwig Albiro am Schauspielhaus im Park der Opfer des Faschismus. Nachdem am Vormittag des 7. Oktober 1989 im Stadtzentrum nach einem Schweigemarsch Volkspolizei gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen war, verlas er dort am Abend eine Resolution für demokratische Reformen.
Foto: Toni Söll

"Freie Presse": Herr Albiro, im Herbst 1989 waren Sie Ende 50 und als Schauspieldirektor am Städtischen Theater tätig. Am 7. Oktober haben Sie am Abend, nach einer Vorstellung im Schauspielhaus, eine Resolution der Mitarbeiter des Theaters für eine demokratische Erneuerung der DDR verlesen, was für ziemliches Aufsehen sorgte. Was war diese DDR damals für Sie?
Hartwig Albiro: Meine anfängliche kritische Solidarität war im Laufe der Jahre mehr und mehr einer kritischen Distanz gegenüber der Führung des Staates gewichen. Das Nichtmitmachen von Glasnost und Perestroika hatte mich zunehmend in eine Antihaltung gebracht.

Wann hatten Sie erstmals das Gefühl: Nicht mehr lange, und dieses Land wird ein anderes sein?
Spätestens seit den Kommunalwahlen im Mai. Hasko Weber, der heutige Intendant des Nationaltheaters in Weimar, war damals als Student bei mir. Gemeinsam haben wir in dieser Zeit viele Widerstandsszenarien entwickelt.

Gehörten Sie einer Partei an, hatten Sie Kontakt zu oppositionellen Gruppen?
Ich war in keiner Partei. Das war für mich schon seit Ende der Nazizeit tabu gewesen, die ich als Hitlerjunge miterlebt habe. Unsere kleine "Kampftruppe" war der Verband der Theaterschaffenden der DDR, in dem ich die Sektion Schauspiel geleitet habe. Da konnte man vernünftig reden. Und wir waren uns fast alle einig: Wir müssen kritische Stimmen hörbar machen und so beitragen zu einer Veränderung im Land.

Hartwig Albiro im November 1989 als Redner bei einer Kundgebung am Karl-Marx-Monument. Hartwig Albiro im November 1989 als Redner bei einer Kundgebung am Karl-Marx-Monument.
Foto: Laszlo Farkas

Worum ging es Ihnen damals?
Wir wollten eine Änderung in der Führung des Landes. Hin zu einem demokratischen Sozialismus, wie er 1968 Alexander Dubcek in der Tschechoslowakei vorschwebte. Mit möglichst viel offenem Meinungsstreit und Dialog. Aber das wurde alles abgeblockt von der Abteilung Kultur im Zentralkomitee.

Haben Sie mal mit dem Gedanken gespielt, aus der DDR wegzugehen?
Nein. Ich hatte ja Frau und Tochter hier. Obwohl es manches Angebot auch aus dem westlichen Ausland gab. Aber ich fand es wichtiger, hier die Stimme zu erheben.

Was haben Sie gedacht, als die Mauer fiel?
Das kam für mich nicht so überraschend. Es gab ja bereits Überlegungen für ein Reisegesetz, das Reisefreiheit durch legales Ein- und Ausreisen ermöglichen sollte. Dass es dann so überstürzt passierte, konnte keiner ahnen. Wir hatten für Mitte November eine Kulturdemonstration am Karl-Marx-Monument geplant. Statt der erwarteten 20.000 Menschen kamen dann nur so um die 6000. Für die anderen standen da wahrscheinlich die neuen Reisemöglichkeiten im Vordergrund.

Nach dem Mauerfall ging die Entwicklung recht schnell in Richtung Wiedervereinigung. Was war Ihre Meinung damals?
Bis Anfang 1990 hatten wir durchaus noch den Traum, eine reformierte, souveräne DDR zu schaffen, die dann selbstbewusst mit der Bundesrepublik eine Vereinigung in Angriff nehmen kann. Mit einer neuen Verfassung, einer neuen Nationalhymne und so weiter. Aber mit Helmut Kohl und der D-Mark wurde aus "Wir sind das Volk!" bald "Wir sind ein Volk!". Heute weiß ich: Unser Traum war eine Utopie.

Wann und wo waren Sie das erste Mal im Westen?
Schon zu DDR-Zeiten, noch ehe ich Anfang der 1970er-Jahre vom Berliner Ensemble nach Karl-Marx-Stadt gekommen bin. Wir hatten immer mal wieder Gastspiele im Ausland. Von daher waren mir auch die Probleme bekannt, die es dort gab.

Das Begrüßungsgeld haben Sie sich aber abgeholt?
Erst relativ spät, im Januar 1990. Ich war auch nicht gierig darauf, es auszugeben. Ich hatte ja schon zu DDR-Zeiten ein bescheidenes Westgeld-Konto, weil ich für den Henschelverlag einige Übersetzungen gemacht hatte.

Hatten Sie in den Jahren nach der Wiedervereinigung Existenzängste, so wie viele andere Menschen im Osten?
Ich persönlich nicht. Da ich schon lange Zeit am hiesigen Theater tätig war, galt ich damals auch nach den neuen bundesdeutschen Gesetzen praktisch als unkündbar. Aber es gab natürlich auch bei uns Entlassungen.

Was war Ihrer Meinung nach der größte Fehler bei der Wiedervereinigung?
Seitens der Bürger der DDR der Irrglaube, dass man die D-Mark und zugleich die soziale Sicherheit der DDR haben kann. Seitens der Bundesregierung diese gewisse Siegermentalität, die oft zu spüren war. Mehr Souveränität im Umgang miteinander wäre schon wünschenswert gewesen. Ich will die DDR wirklich nicht wiederhaben, aber ich lasse sie mir auch nicht nehmen. Sie war Teil unseres Lebens.

Wenn Sie heute zurückblicken: Haben sich Ihre Hoffnungen aus dem Herbst 1989 erfüllt?
Ja. Ich bin froh, dass ich in einer Demokratie lebe, in der ich mich frei äußern kann - auch dann, wenn meine Meinung nicht dem allgemeinen Meinungsbild entspricht. Und ich kann nur jeden ermuntern, diese Möglichkeit zu nutzen.

Sind Sie heute noch politisch oder zivilgesellschaftlich aktiv?
Mit Rücksicht auf das Alter nur noch ehrenamtlich. Ich bin Ehrenvorsitzender des Bürgervereins für Chemnitz, den ich mitgegründet habe, für mehr Toleranz und Freundlichkeit in der Stadt. Ich engagiere mich nach wie vor für den alljährlichen Friedenstag und den Chemnitzer Friedenspreis, außerdem im Verein "Kunst für Chemnitz", im Theaterförderverein, in der Henry-van-de-Velde- und der Internationalen Stefan-Heym-Gesellschaft.

Ihr Wunsch für die Zukunft?
Dass wir unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten mit diesem Rechtsruck, auch international, friedlich in den Griff bekommen.


Hartwig Albiro

Der Regisseur und Schauspieler , geboren 1931 in Meuselwitz, begann seine Theaterkarriere in den 1950er-Jahren in Altenburg und Stendal. Bis 1968 Regisseur und Oberspielleiter am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau, wechselte Albiro anschließend als Regiemitarbeiter ans Berliner Ensemble. Bis 1996 war er am Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt bzw. Chemnitz als Schauspieldirektor tätig. Heute gehört er dem Ensemble als Ehrenmitglied an. (micm)


Quelle: FP vom 12.10.2019

In Karl-Marx-Stadt formte er die großen Ost-Stars von heute: Glückwunsch, Hartwig Albiro

Von Johannes Pittroff
09.12.2021 08:01

Chemnitz - Hoch soll er leben! Der große Theatermann Hartwig Albiro feiert am Donnerstag seinen 90. Geburtstag. Als Schauspiel-Direktor prägte er von 1971 bis 1996 die Kultur von Karl-Marx-Stadt und Chemnitz - und spielte eine bedeutende Rolle bei der Wende. Im Gespräch mit TAG24 blickt er zurück auf sein bewegtes Leben.

Der frühere Schauspiel-Direktor Hartwig Albiro (90) blickt zum 90. Geburtstag auf seine lange Karriere zurück.
© Kristin Schmidt

In Chemnitz startete die Friedliche Revolution am 7. Oktober 1989 mit einem Schweigemarsch - das Theater spielte dabei eine Hauptrolle.
© Peter Forkel, Repro: Uwe Meinhold

Der gebürtige Thüringer arbeitete sich in den 1950er- und 60er-Jahren auf den DDR-Bühnen nach oben, bis er 1968 den Sprung ans berühmte Berliner Ensemble schaffte.

Doch seine wichtigste Zeit begann erst, als er 1971 als Direktor an das Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt kam. "Hier gab es eine befreiende Nische", erinnert sich Hartwig Albiro heute. "Die hätte ich wohl nirgends anders gefunden. In Berlin wäre ich einer von vielen gewesen - von Karl-Marx-Stadt aus konnte ich das DDR-Theater prägen."

Unter seiner Leitung wurde die Chemnitzer Bühne zum Sprungbrett für große Talente: "Meine erste Regie-Arbeit in Chemnitz waren 'Die Räuber' von Friedrich Schiller.

Michael Gwisdek spielte den Karl Moor, Peter Sodann den Franz Moor." An ihrer Seite auf der Bühne standen Andreas Schmidt-Schaller (76), Dietmar Huhn (77), Horst Krause (79) und Jörg Gudzuhn (76) - allesamt schafften später den Durchbruch. "Meine ‚Räuberbande' ist groß rausgekommen", sagt Albiro schmunzelnd.

Doch 1976 kam die Katastrophe: "Nach der Generalprobe eines sehr politischen Stücks - 'Tinka' von Volker Braun - brannte das Schauspielhaus in der Nacht komplett aus." Bis heute vermutet Hartwig Albiro dahinter Sabotage, denn das Stück war der Obrigkeit ein Dorn im Auge: "Nach dem Brand hieß es, die Stasi wollte die Premiere verhindern."

Das Ensemble hatte fortan keine feste Spielstätte mehr, bis 1980 endlich das neue Schauspielhaus eröffnete.

Friedliche Revolutionäre

Hartwig Albiro führte das Schauspielhaus durch die bewegte Wendezeit.
© PR

Den nächsten Wendepunkt kann Hartwig Albiro auf den Tag genau datieren: Er kam am 7. Oktober 1989. "Wir haben die Friedliche Revolution in Chemnitz spontan gestartet", sagt er rückblickend.

"Im 'Luxor' gab es ein Festwochenende zum 40. Jahrestag der Republik. Das wollten wir nicht mitmachen!"

Er und sein Team bereiteten stattdessen eine Lesung mit kritischen Texten vor.

Das Programm wurde verboten - da strömten die Chemnitzer erst recht herbei. "Vor dem 'Luxor' hatten sich Tausende Menschen versammelt, der Zuschauerraum war überfüllt." Der Pulk formierte sich zum Schweigemarsch durch die Stadt. "Wir wurden mit Wasserwerfern auseinandergetrieben."

Doch die Friedlichen Revolutionäre gaben nicht klein bei: Am Abend verlas Hartwig Albiro im Schauspielhaus eine Resolution, die den Staat scharf angriff. "Da brach ein Sturm der Begeisterung los." Zwei Tage später, am 9. Oktober, setzte die Wende ein.

Hartwig Albiro im Jahr 1983 am Regiepult des Schauspielhauses - hier war er jahrzehntelang zu Hause.
© Sieglinde Gemarius de Kepper, Repro: Kristin Schmidt

Noch immer nicht müde

Hartwig Albiro (90) feierte 2019 mit der damaligen Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (59, SPD), als der Kulturhauptstadt-Titel näher rückte.
© Kristin Schmidt

1996 ging der damals 64-Jährige in Rente - doch "Ruhestand" wäre dafür das falsche Wort.

Immer wieder kehrte er als Schauspieler auf die Bühne zurück, er engagiert sich bis heute beim "Chemnitzer Friedenstag" und in der Stefan-Heym-Gesellschaft.

Auch bei der Kulturhauptstadt-Bewerbung packte er mit an. Für seinen 90. Geburtstag hatte Hartwig Albiro eine große Feier im Theaterclub geplant. "Die will ich im Mai nachholen."


Quelle:


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 18.06.2023 - 17:03